Im Schatten Kants – Teil 3: Immanuel Kant rettet die Schöpfung
„Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.“
Friedrich Nietzsche in einem Brief an seine Schwester vom 11. Juni 1865
Künstliche Intelligenz verstrickt im Deutungs-Wirrwarr
Kommen wir nun zur dritten – zur abschließenden – Episode dieser kleinen Reihe von Beiträgen anlässlich Immanuel Kants „rundem“ Geburtstag am 22. April 1724.
Wie gesehen war für mich als Verfasser dieser Texte motivierender Anlass, wie „Bildungsbürger“ im Jubiläumsjahr des Dreihundertjährigen per vielfältigem „Content“ in Massenmedien in so manche Irre geführt werden.
Gestützt wurde der wellenförmig auftretende Publikations-Trend wahrscheinlich durch die mittlerweile von Redaktionsmitarbeitern reichlich genutzten digitalen Applikationen und Schreibhilfen, die auf Sprachmodelle „Künstlicher Intelligenzen“ zurückgreifen.
Diese Applikationen sind trainiert auf der Basis eines Riesenangebots an Texten, die während vieler Jahrzehnte über Kant geschrieben und verbreitet worden sind. Diese „Sekundärliteratur“ zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die jeweiligen Kant-Interpreten das kritische Werk keineswegs einheitlich deuten, sondern teilweise diametral entgegengesetzte Lesarten vorgelegt haben.
Dazu kommt: Künstliche Intelligenz kann diesen Deutungs-Wirrwarr nicht durch Rückgriff auf Originaltexte entwirren. Denn das Werk ist nicht nur schwer zu verstehen, sondern auch in vielen Details von seinem Königsberger Verfasser widersprüchlich formuliert.
Die Nutzung „zeitgemäßer“ digitaler Schreibhilfen wie ChatGPT usw. in Redaktionen ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich riskant: Erstens bereiten die KI-nutzenden Content-Produzenten offenbar durcheinander gewürfelte Texte auf, die – zweitens – ein Werk betreffen, das sie in der Regel nicht selber studiert haben und bestenfalls lückenhaft verstehen, um es – drittens – einer Lesergruppe zu „kredenzen“, die zwar guten Willens ist, sich anlässlich eines herausragenden Jubiläums beinahe pflichtschuldig mit dem berühmtesten „National-Intellektuellen“ Deutschlands zu beschäftigen. Aber sie verfügen nicht über ausreichende Erfahrung, philosophische Reflexionen zu hinterfragen und klassische Texte zu interpretieren.
Unter diesen Voraussetzungen ist der diesjährige Strom an KI-gestützten Publikationen zu Kants philosophischem Werk nicht nur wegen des dabei auftretenden unfachmännischen Recyclens von inhomogenem Textmaterial und von problematischen Textinterpretationen mit „Vorsicht zu genießen“. Denn die zum Einsatz kommenden KI-Modelle und Computer-Anwendungen sind nicht in der Lage, Texte tatsächlich zu verstehen. Sie stellen lediglich mehr oder weniger plausibel digital verfügbare Inhalte zusammen und können diese nicht in einer Weise kritisch-analytisch hinterfragen, wie dies insbesondere bei Kant-Interpretationen notwendig wäre.
Jeder, der tiefer in die Thematik einsteigt und sich mit Kant werkgetreu auseinandersetzt, wird folgende Grundübel erfassen, wenn er Sprachmodelle mit Test-Prompts beispielsweise zur Kritik der reinen Vernunft „füttert“: Der KI fehlt nicht nur die Fähigkeit, beispielsweise die Argumentation der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik – damit deren Kernstück – auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse – beispielsweise aus der Kognitions-Psychologie oder der kognitiven Neurowissenschaften – zu bewerten. Darüber hinaus fehlt die kritische Bewertung der jahrzehntelangen Kant-Rezeption auf der Basis der aktuellen Forschung im Bereich der Philosophie-Historie – insbesondere der Erforschung der Hintergründe der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Ohne Konfrontationen mit solchem überprüfbaren Wissen ist eine ernsthafte und begründete Wertschätzung des kantischen Werks nicht vorstellbar.
Vor diesem Hintergrund schauen wir uns nun eine typische Formulierung an, wie sie in letzter Zeit in ähnlicher Form in zigfache mediale Verbreitung gebracht worden ist:
„Es ist bemerkenswert, dass wir im Jahr 2024 ein besonderes Jubiläum feiern können: der Geburtstag von Immanuel Kant – des „Alleszermalmers“ -, einem der einflussreichsten Philosophen der Aufklärung („Gigant der Aufklärung“ wie es einmal in einer Ausgabe von „Die Zeit“ hieß) und der Philosophiegeschichte insgesamt, jährt sich zum 300. Mal“.
Was ist hiervon zu halten? – Etwa von dem „aufklärerischen“ Akzent und von der Behauptung, der Geburtstag „jähre sich zum 300. Mal“. Seitdem ein entsprechender Text von einem „philosophischen“ Autoren bereits Ende des Jahre 2023 per Sachbuchveröffentlichung in Umlauf gebracht wurde, ist diese „Auslobung“ von Kants Geburtstag im Internet hundertfach übernommen worden. – Es ist erstaunlich, wie viele journalistische Autoren und Redaktionen insbesondere auf die Formulierung „jährt sich zum 300. Mal“ hereingefallen sind. Wer nachrechnet, stellt schnell fest: Erst im nächsten Jahr, 2025, jährt sich Kants Geburtstag tatsächlich zum 300. Mal. 2024 ist lediglich das Jahr, in dem Kant vor 300 Jahren geboren wurde – ein feiner, aber bedeutsamer Unterschied.
So stellt sich die Künstliche Intelligenz Immanuel Kant als Inspirator der Aufklärung vor: Der Königsberger grüßt huldvoll die revolutionären Länder des 18. Jahrhunderts.
Auf den ersten Blick mag es pedantisch und übertrieben erscheinen, den Schreibern diesen Rechenfehler vorzuwerfen. Es handelt sich schließlich nur um ein kleines Detail in der Fülle von Informationen, die über Kant verbreitet werden. Doch gerade diese scheinbare Belanglosigkeit sollte uns aufhorchen lassen. Denn wenn schon bei einer so einfachen Berechnung Ungenauigkeiten auftreten, was bedeutet das für die inhaltlichen Aussagen über Kants Philosophie und insbesondere seine Rolle als Aufklärer?
Wenn bereits solch ein grundlegendes Detail falsch dargestellt wird, wie verlässlich sind dann die weitreichenden Behauptungen über Kants Bedeutung als Aufklärer? Sollten wir nicht gewarnt sein und kritisch hinterfragen, ob hier möglicherweise unreflektiert „schiefliegende“ Gemeinplätze wiederholt werden?
Es ist angebracht, die gängigen Narrative über Kant als „Giganten der Aufklärung“ oder „Alleszermalmer“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht offenbart sich bei näherer Betrachtung, dass diese Zuschreibungen ebenso oberflächlich sind wie die fehlerhafte Jubiläumsberechnung. Es lohnt sich, Kants tatsächliche Rolle in der Aufklärung und seinen Einfluss auf die Philosophiegeschichte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Denn schließlich identifizieren wir Kultur-Deutsche uns allzu gerne mit dem Anspruch, vermittelt über Kant „Kinder der Aufklärung“ zu sein. Oder? Nur so können wir eine ernsthafte und begründete Wertschätzung seines philosophischen Erbes realisieren.
Wie gehen wir vor?
In der zweiten Episode dieser kleinen Kant-Reihe hatten wir gesehen, wie Kant bei der Herausgabe der Kritik der reinen Vernunft von Beginn an richtig eingeschätzt hatte, dass sein innerhalb weniger Monate geschriebenes Buch für das Publikum schwer konsumierbar sein würde. Er hatte deshalb eine PR-Kampagne vorbereitet, die allerdings unvorhergesehenerweise scheiterte. Immanuel Kant wollte vermittelt über einen Freund den damals populären Philosophen Moses Mendelssohn dazu bringen, seine Kritik in der Diskussion der Fachöffentlichkeit zu etablieren. Diese Propagierungs-Strategie scheiterte aufgrund der schlechten Gesundheit Mendelssohns. Folge: Die Kritik der reinen Vernunft blieb jahrelang unbeachtet.
An diese Werkgeschichte anschließend werden wir die angekündigte Prüfung der verbreiteten Kant-Narrative anhand zweier Fragen führen:
1. Wie kam es, dass Kants erste Kritik am Ende doch gelesen wurde und heute als eines der bekanntesten und wichtigsten Werke der Philosophie gilt?
2. War Kant als Autor der Kritik der reinen Vernunft tatsächlich einer der einflussreichsten Aufklärer des 18. Jahrhunderts?
Beginnen wir mit der Beantwortung der ersten Frage:
Frage 1: Wie kam es, dass Kants Kritik berühmt wurde?
Noch bevor Kant um das Jahr 1770 mit den Überlegungen begann, die er in der Kritik der reinen Vernunft zu Papier brachte, waren vor allem in Frankreich maßgebliche umstürzlerische Werke erschienen. Es handelte sich um eine Reihe von meist anonym veröffentlichten Büchern von Intellektuellen – den „philosophes moderne“ -, die insbesondere den christlichen Glauben und die Legitimität der damaligen Macht der europäischen Aristokratie massiv infrage stellten.
Wir müssen heute auf der Basis der Ergebnisse der Erforschung der Aufklärungsgeschichte Kants Arbeit an seiner Kritik als Versuch sehen, eine Gegenposition zur „philosophie moderne“ aufzubauen. Sein kritisches Werk zielte offenbar darauf ab, eine neue Grundlage für Erkenntnis und Moral zu schaffen, die den Herausforderungen der damaligen radikalen Kritik an Glauben und aristokratischer Macht gerecht wurde.
Allerdings: Trotz dieser ambitionierten Zielsetzung blieb Kants Werk wie gesehen nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1781 zunächst unbeachtet und wäre es möglicherweise bis heute geblieben.
Es war schließlich Philosophie-Professor Karl Leonhard Reinhold, der das Potenzial von Kants Kritik als wirksames Gegenmittel gegen den sich in der modernen Philosophie Bahn brechenden Skeptizismus und die Bedrohung traditioneller Werte erkannte und den Grundstein legte für den Ruhm der Vernunftkritik.
Reinhold, der 1787 auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Jena berufen wurde, etablierte sich als ein außerordentlich effektiver Philosophiedozent. Er zog viele Studenten an und trug mehr als jeder andere Rezipient dazu bei, den Kantianismus zu einer neuartigen intellektuellen „Triebkraft“ an den Universitäten zu machen. Seine ersten Briefe über die „Kantische Philosophie“ erschienen im August 1786 im Teutschen Merkur gelten als die einflussreichste Arbeit, die je über Kant geschrieben wurde. Reinholds Briefe verliehen Kants „kritischer Philosophie“ einen starken Impuls, indem sie die komplizierte technische Terminologie Kants ignorierten, die zuvor die Würdigung seiner Argumente behindert hatte. Stattdessen konzentrierte sich Reinhold darauf, die Öffentlichkeit von den Vorteilen des neuen Systems zu überzeugen.
Reinhold stellte Kants Philosophie als Verteidigung von Religion, traditionellen Werten und Moral dar – als Waffe gegen den unreligiösen Skeptizismus. Er argumentierte, dass der Kantianismus kein desorientierendes neues System sei, sondern ein unübertroffenes Instrument, um die Vorherrschaft von Autorität, Glauben und traditioneller Moral wiederherzustellen. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die philosophische Wiederherstellung des Christentums durch Kants Werk. Aus seiner Sicht reinigte und befreite Kants Philosophie die Moral, indem sie diese in der praktischen Akzeptanz eines Gottes-Konzepts verankerte, der auf den Postulaten einer „reinen praktischen Vernunft“ beruhte. Denn Kant argumentierte, dass die vernunftgebotene Anerkennung moralischer Pflichten als göttliche Gebote das Wesen der Religion ausmache – statt auf Offenbarung oder theoretischen Beweisen zu gründen.
Reinhold betonte, dass Kants größte Stärke darin läge, angeblich beweisen zu können, dass alle Versuche, einen persönlichen Gott zu entthronen, nur die vergebliche Verdrehung eines anmaßenden Denkens seien, das nicht in der Lage sei, die eigene innere Begrenztheit zu erkennen.
Laut Professor Reinhold etablierte Kant durch seine Kritik Gott kraftvoll als Schöpfer und Statthalter des Universums, der moralische Gesetze vorgibt: Die Künstliche Intelligenz setzt diesen Gedanken für uns ins Bild.
Der durch Reinholt forcierte Durchbruch von Kants Kritik bedeutete, dass das Streben des Menschen nach Glück untrennbar verbunden wurde mit der traditionellen Religion und Moral, dem sittlichen Leben basierend auf den Dogmen der Existenz Gottes, der Willensfreiheit des Gläubigen, Moralgebote zu erfüllen, und der Unsterblichkeit der Seele. Kants Philosophie sollte es ermöglichen, Gott kraftvoll wieder als Schöpfer und Statthalter des Universums zu etablieren, der moralische Gesetze vorgibt.
Reinhold und in seiner Richtung argumentierende Autoren waren auf diese Weise in der Lage, Kants Werk zu etablieren und einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung zu bewirken, der ab dem Jahr 1786 den großen Durchbruch in Kants Karriere und einen Wandel in der deutschen Berufsphilosophie auslöste.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kants Kritik der reinen Vernunft durch die gezielte Popularisierung durch Reinhold und dessen Motiv, die philosophische Wiederherstellung des christlichen Glaubens zu bewirken, bekannt wurde. Hier liegt der Ausgangspunkt dafür, dass Kants Werk schließlich als eines der wichtigsten Werke der Philosophiegeschichte anerkannt wurde.
Kommen wir nach diesem Fazit zur Beantwortung der zweiten Frage:
Frage 2: War Kant tatsächlich als „Gigant“ ein „Alleszermalmer“ im Umfeld der Aufklärung des 18. Jahrhunderts?
Nachdem wir gerade gesehen haben, wie die aktuelle Forschung zur Aufklärungsgeschichte herausarbeitet, wie Kants kritisches Werk von seinen Zeitgenossen als „Gegenmittel“ zur Behandlung der radikalen Aufklärung des Westens stilisiert wurde, zeichnet sich die Antwort bereits ab: Statt bestehendes dogmatisches Denken zu „zerstören“, scheint er dieses stattdessen neu zu begründen und zu restaurieren. Zumindest wurde sein kritisches Werk von Zeitgenossen entsprechend gedeutet.
Doch im Einzelnen: Hat Reinhold sich möglicherweise getäuscht und Kants Ruhm auf einer Fehlinterpretation aufgebaut? Schließlich gilt Kant uns heute als „Alleszermalmer“ mit Blick auf überkommenes Denken.
Wie kam es zu der Bezeichnung „Alleszermalmer“?
So illustriert uns die Künstliche Intelligenz die Frage: Zermalmte Kant mit seiner Kritik überkommenes Denken der Vergangenheit?
Das kam so: Moses Mendelssohn, wie gesehen selbst ein bedeutender Philosoph des 18. Jahrhunderts, prägte den Ausdruck „der alles zermalmende Kant“ in der Zeit, als er unter erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen litt. – In der zweiten Episode waren wir bereits auf Mendelssohns kognitive Probleme eingegangen. Diese Denk-Einschränkung, die er als „Nervenschwäche“ bezeichnete, machten es ihm unmöglich, sich intensiv mit den Gedanken anderer Philosophen auseinanderzusetzen. In seinem letzten Werk „Morgenstunden“ von 1786 beschreibt Mendelssohn, dass er die kritische Schrift von Kant (laut Mendelssohn: „dieses Nervensaft verzehrende Werk“) nur aus zweiter Hand kennt, da seine gesundheitliche Verfassung ihm das Lesen und Verstehen dieses komplexen Werks erschwerte.
(„Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet mir jede Anstrengung des Geistes, und, welches den Aerzten selbst sonderbar vorkömmt, sie erschweret mir das Lesen fremder Gedanken fast noch mehr, als eigenes Nachdenken. Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unterdessen in der Methaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Plattners und selbst des alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten Anzeigen, die selten viel belehrender sind. Für mich stehet also diese Wissenschaft noch itzt auf dem Punkte, auf welchem sie etwa um das fünf und siebenzigste Jahr dieses Jahrhunderts gestanden hat; denn so lange ist es her, daß ich genöthiget bin, mich von ihr zu entfernen; wiewohl ich es doch nie über mich habe erhalten können, der Philosophie völlig Abschied zu geben; so sehr ich auch mit mir selbst gekämpft habe. Ach! sie war in bessern Jahren meine treueste Gefährtinn, mein einziger Trost in allen Widerwärtigkeiten dieses Lebens.“)
Mendelssohns Ausdruck „alles zermalmend“ ist nicht als fachmännische Beurteilung der Qualität von Kants Werk gemeint, sondern vielmehr ein Ausdruck von Mendelssohns Frustration angesichts seiner momentanen individuell fehlenden Konzentrationsfähigkeit mit Blick auf „schwierige“ Literatur. In einem Brief aus dem Jahr 1783 an Kant erwähnte Mendelssohn, dass er seit vielen Jahren der Metaphysik „wie abgestorben“ sei und sich nur mit weniger anstrengenden Arbeiten beschäftigen könne. Dennoch hege er die Hoffnung, eines Tages wieder gesund genug zu sein, um sich Kants Kritik der reinen Vernunft vollständig widmen zu können. Wie Mendelssohns Darstellung in „Morgenstunden“ zeigt, sollte sich diese Hoffnung nie erfüllen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mendelssohns Ausdruck „der alles zermalmende Kant“ weniger eine objektive Bewertung von Kants philosophischer Größe war, sondern vielmehr ein persönlicher Ausdruck der intellektuellen Überforderung, die Kants Werk für ihn darstellte. „Zermalmt“ war insoweit zwar die Konzentrationsfähigkeit Mendelssohn – hieraus den Ausdruck „Kant der Alleszermalmer bisheriger Philosophie“ abzuleiten, erscheint im Detail betrachtet als ausgesprochen „abwegig“.
Die Aufklärung: Kultureller Umbruch jenseits von Kants Definition
Auch philosophischen Laien wird an dieser Stelle in den Sinn kommen, dass es da doch eine berühmte Schrift gab, in der Kant für uns heute grundsätzlich definiert hat, was Aufklärung zu bedeuten hat. Können wir aus dieser Schrift und ihrer Bedeutung für die Nachwelt nicht ableiten, wie groß Kants Status als Aufklärer tatsächlich ist? Schauen wir uns das einmal an:
Wenn wir heute als westliche „Kultur-Konsumenten“ auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurückblicken, verwenden wir Begriffe wie „Enlightenment“ (Englisch), „Lumières“ (Französisch) oder „Ilustración“ (Spanisch), die vom zeitgenössischen Publikum des 18. Jahrhunderts so noch nicht verwendet wurden. Der Philosophiehistoriker Jonathan Israel beschreibt, dass damals eher von „philosophes moderne“ oder von der „philosophie moderne“ gesprochen wurde, wenn über die tiefgreifenden intellektuellen, sozialen und kulturellen Veränderungen diskutiert wurde, die sich in dieser Epoche vollzogen.
Immanuel Kants berühmter Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ aus der Berlinerischen Monatsschrift von 1784 fängt diese Umwälzungen nur bedingt ein. Für Kant bedeutet Aufklärung vor allem den Ausgang des Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ aufgrund von Faulheit und Feigheit. Er kritisiert die geistige Trägheit seiner Zeitgenossen (insbesondere des „ganz schönen Geschlechts“), statt die grundlegenden Missstände in Politik, Gesellschaft und Religion anzuprangern, gegen die sich die französischen „philosophes modernes“ ausdrücklich wandten.
Die eigentliche aufklärerische Kritik an ungerechtfertigter Dominanz durch Adel und Klerus, an politischer Unterdrückung und religiöser Bevormundung, wie sie die Vordenker in Paris übten, bleibt bei ihm außen vor. Statt die Mächtigen herauszufordern, prangert er stattdessen die Faulheit des Einzelnen an.
In der deutschen Kultur werden der Vorstellung, Kant wäre ein aufklärerisches Vorbild gewesen, ständig neu in Texten „Denkmäler“ gesetzt – so stellt sich die Künstliche Intelligenz diese Idealisierung vor.
Aus heutiger Sicht müssen wir die Aufklärung umfassender als kulturellen Umbruch begreifen, der die Moderne entscheidend prägte: Ein Programm von gegenseitigem Respekt, Menschenwürde, individueller Freiheit und Kosmopolitismus, gestützt auf Vernunft statt blinder Autorität. Diese Ideale führten zu einer Neuordnung der Gesellschaft, zu einem kritischen Öffentlichkeitsdiskurs und einem Hinterfragen religiöser Orthodoxie. Kant trug mit seiner Beantwortung der Frage nach der Aufklärung zwar dazu bei, den Begriff zu etablieren, brachte deren revolutionäre Sprengkraft aber nicht zum Ausdruck.
Zwei Gesichter der Aufklärung: Radikale Umstürzler und moderate Reformer
Die Erforschung der Aufklärungsphilosophie hat in den letzten Jahrzehnten ein differenzierteres Bild der prägenden Epoche gezeichnet, die wir heute als Aufklärung betrachten. Besonders die umfassenden Studien von Jonathan Israel und seinen Kollegen zum „democratic enlightenment“ haben gezeigt, dass sich ab dem frühen 18. Jahrhundert zwei grundlegend verschiedene Strömungen der Aufklärung herausbildeten.
Auf der einen Seite stand eine radikal-demokratische Richtung, die Israel als „Radikalaufklärung“ bezeichnet. Ihre Vertreter verfochten aufklärerische Prinzipien besonders kämpferisch und subversiv gegen bestehende religiöse und politische Strukturen. Sie strebten nicht nur danach, die Macht der Kirche zu beschneiden, sondern forderten auch weitreichende institutionelle und politische Reformen. Ihr Credo: Um Tyrannei zu bekämpfen, müsse Monarchie, Adel und religiöse Autorität gleichermaßen in Frage gestellt werden.
Dem gegenüber etablierte sich eine konservative, „restaurative“ Ausprägung der Aufklärung. Dieser gemäßigte Mainstream zielte lediglich darauf ab, den Einfluss der Kirche einzuschränken und deren religiöse Intoleranz zu vermindern. Von Natur aus antidemokratisch und anti-egalitär, zögerten seine Vertreter, vollständige Toleranz zu fordern. Sie waren vielmehr darauf bedacht, bestehende institutionelle, kirchliche und rechtliche Formen weitgehend zu bewahren.
Diese Kluft zwischen den Vertretern einer utopischen Radikalaufklärung und einer moderaten Aufklärung prägte nicht nur die Epoche selbst, sondern wirkte weit darüber hinaus. Sie wurde grundlegend für die weitere Entwicklung der westlichen Kultur. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage, ob Kant tatsächlich als „Gigant der Aufklärung“ zu gelten hat, ohne Weiteres beantworten.
Die Herausforderung der radikalen Aufklärung für Kants Philosophie
Die radikale Aufklärung, wie sie von Denkern wie Denis Diderot und dem aus der damaligen Pfalz (heute Rheinland-Pfalz) stammenden Paul-Heinrich Dietrich, besser bekannt als Baron von Holbach, vertreten wurde, bestand aus einer Reihe von Grundprinzipien, die die westliche Kultur und Gesellschaft nachhaltig prägten. Diese Prinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Demokratie: Die radikale Aufklärung setzte sich für eine Regierungsform ein, die auf der Zustimmung der Regierten beruhte und somit die ausschließliche Quelle der politischen Legitimität darstellte.
- Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassen: Alle Menschen sollten unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder Religion die gleichen Rechte und den gleichen Status haben. Dies bedeutete, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollten, ob schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, religiös oder nicht religiös. Ihre persönlichen Interessen und Bestrebungen sollten gleichermaßen von Gesetz und Regierung respektiert werden.
- Individuelle Freiheit der Lebensführung: Jeder Mensch sollte die Freiheit haben, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
- Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit: Diese Freiheiten wurden als unverzichtbar für eine aufgeklärte Gesellschaft angesehen.
- Säkularisierung: Die radikale Aufklärung forderte die Beseitigung der religiösen Autorität aus dem Gesetzgebungsprozess und dem Bildungswesen sowie die vollständige Trennung von Kirche und Staat.
- Staatliche Förderung weltlicher Interessen: Der Staat sollte die weltlichen Interessen der Mehrheit fördern und verhindern, dass Minderheiten die Kontrolle über den Gesetzgebungsprozess erlangen.
- Universalismus: Alle Menschen sollten das gleiche Recht haben, nach ihrem eigenen Glück zu streben und ihre Meinung frei zu äußern. Niemand, auch nicht religiöse Führer, sollten das Recht haben, anderen diese Freiheiten zu verweigern.
Diese Ideen, die damals radikal erschienen und für uns heute „normal“, wenn auch immer noch unvollkommen realisiert erscheinen, wurden im 18. Jahrhundert in einer Reihe von Büchern verbreitet, die oft als „Untergrundliteratur“ erschienen, um der Verfolgung durch die staatlichen und kirchlichen Behörden zu entgehen. Ein herausragendes Beispiel ist das „System der Natur“, dessen Autorenschaft heute Baron von Holbach zugeschrieben wird. Diese Werke forderten die bestehenden religiösen und politischen Strukturen heraus und gelten der Philosophie-Geschichtsschreibung als die wichtigsten Werke der Aufklärung.
Im Gegensatz zu den radikalen Forderungen der französischen „philosophes modernes“ nach einer egalitären Demokratie vertrat Immanuel Kant eine entschieden konservative Position. Beispielsweise in seinem Werk „Die Metaphysik der Sitten“ lehnte er die Demokratie ausdrücklich ab und bezeichnete sie sogar als eine Form des „Despotismus“. Kant betonte nachdrücklich, dass seine Philosophie weder antiaristokratisch noch antimonarchisch oder religionsfeindlich sei.
Stattdessen bekräftigte er die Legitimität der fürstlichen Autorität und behauptete, die Untertanen hätten keine vertretbaren Rechte gegen den Willen der Herrscher. Selbst in seinen kühnsten Schriften der 1790er Jahre hielt Kant an dieser Überzeugung fest. Er befand, dass der Widerstand der Unterworfenen gegen eine despotische Macht niemals gerechtfertigt sei.
Während die Radikalaufklärer die Zustimmung der Regierten zur einzigen Quelle politischer Legitimität erklärten, verteidigte Kant die bestehenden Machtverhältnisse und die Vorrechte von Adel und Monarchie. Seine Philosophie zielte nicht auf eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung ab, sondern suchte nach einer Versöhnung von Vernunft und Tradition innerhalb der gegebenen Strukturen.
Fazit: Kant ist Vertreter eines gemäßigten Aufklärungsdenkens.
Die Analyse von Immanuel Kants Philosophie im Kontext der radikalen Aufklärung und ihrer demokratischen Forderungen offenbart die Grenzen seines aufklärerischen Denkens. Kant erweist sich als Vertreter eines gemäßigten Mainstreams, der zwar die Vernunft betont, aber gleichzeitig die bestehenden institutionellen, kirchlichen und rechtlichen Formen verteidigt.
Letztlich zielen Kants Kritiken darauf ab, dem christlichen Glauben ein „vernunftgemäßes“ Fundament zu geben. Wie er selbst in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zusammenfasste, führt die Moral „unweigerlich zur Religion“ und erweitert sich durch sie zur Vorstellung eines mächtigen moralischen Gesetzgebers außerhalb des Menschen. Religion und Moral bleiben in Kants Denken eng verknüpft.
Angesichts dieser Positionen erscheint die Bezeichnung Kants als „Gigant der Aufklärung“ mehr als fehlplatziert. Seine Philosophie strebte nicht nach einer Umwälzung der bestehenden Ordnung, sondern suchte nach einer Versöhnung von Vernunft und Tradition innerhalb der gegebenen Strukturen.
Kant hätte dieser kritischen Analyse des ihm zugeschriebenen Gigantenstatus zugestimmt. Ihm ging es stattdessen um die Verteidigung der Haltung des rechtschaffenden und gottesfürchtigen Individuums seiner Zeit. War er doch zeitlebens stolz auf seine Eltern, die er als „in Rechenschaft, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft“ beschrieb (Notizen zu einem Brief an Bischof Lindholm vom 13.10.1797 – siehe Band 13. Akademie-Ausgabe von Kants Schriften). Als Philosoph eiferte er ihnen offenbar nach und verewigte ihre Haltung in einem stabilen „Vernunft-Fundament“.
Immanuel Kant war zeitlebens stolz auf den „moralischen Anstand“ seiner früh verstorbenen Eltern: So illustriert es uns die Künstliche Intelligenz.
Überhaupt: Das, was ihm zu seinem diesjährigen Geburtstag im Rahmen von „Lobpreisungen“ „angetan“ wird, entspricht überhaupt nicht seinen Vorstellungen von „Philosophieren“. In der Einleitung zu seiner Logik schreibt er: „Philosophiren läßt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen. Wie sollte sich auch Philosophie eigentlich lernen lassen? Jeder philosophische Denker baut, so zu sagen, auf den Trümmern eines Andern sein eigenes Werk, nie aber ist eines zu Stande gekommen, das in allen seinen Theilen beständig gewesen wäre. Man kann daher schon aus dem Grunde Philosophie nicht lernen, weil sie noch nicht gegeben ist.“
Mit dem in diesem Jahr zelebrierten Aufzählen von angeblichen „zeitlosen“ „Errungenschaften“ in Kants Kritiken – wie etwa apriorisch-synthetische Erkenntnistheorie oder universell gültigem Moral-Gesetz des kategorischen Imperativs – überhaupt nicht einverstanden gewesen. Wie er weiter schreibt, ist die „Würde des Philosophen“, die „eines Kenners und Lehrers der Weisheit“. Und weiter „daß man wohl behaupten darf: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenriß von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden.“
Kommen wir an diesen Gedanken angelehnt zum Schluss:
Wollen wir Immanuel Kant anlässlich seines Geburtstages in seinem Sinne „philosophisch“ würdigen, sollten wir nun zügig – bis sich sein Geburtstag im nächsten Jahr tatsächlich zum 300. Mal jährt, Kants Werk – wie von ihm gefordert – aus dem Schatten herausholen, in den es über viele Jahrzehnte von Rezipienten und deren Nachplapperern gestellt wurde.
Folgen wir dabei also seiner Empfehlung, um schließlich das Konzept insbesondere seiner drei Kritiken in das Licht heute bewährter Wissenschaften zu stellen. Dann werden Leserinnen und Leser, Zuhörerinnen und Zuhörer erfassen, wie wir mit den Herausforderungen von Erkenntnistheorie, Moralität, Religion und Ursprung der Welt heute mit Vernunft umzugehen haben und in welche Richtung nun weiter zu forschen ist:
„Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.“
(Friedrich Nietzsche)
Copyrights der Bilder
Die Bilder wurden per Künstlicher Intelligenz mit dem Online-Grafik-Service Canva.com erstellt. Im Detail liegen den Darstellungen keine Portrait-Bilder Immanuel Kants zugrunde o.ä. zugrunde. Es handelt sich bei allem um freie AI-„Fantasie“.
Quellen
– Jonathan I. Israel, Democratic Enlightenment – Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750-1790, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 633 – 778 – Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist. New York: Vintage Books, 1968 – Manfred Kühn, Kant – Eine Biographie, München: C. H. Beck 2003 – Immanuel Kant
- Kritik der reinen Vernunft (1781/1787)
- Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784)
- Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)
- Die Metaphysik der Sitten (1797)
- Logik (1800)
- Briefwechsel – Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörfer, Hamburg: Meiner Verlag 1972
- Briefe in: Kant’s gesammelte Schriften. Band 13 / herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften – Zweite Auflage Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter & Co.
– Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Berlin: Christian Friedrich Voß und Sohn 1785